Wenn über Diskriminierung gesprochen wird, kommt es gelegentlich dazu, dass diskriminierende und anti-diskriminierende Positionen gegenübergestellt werden, als ob sie zwei gleichberechtigte Meinungen wären. Es wird sich dabei auf Toleranz und Meinungsfreiheit berufen, um ausgrenzende und unwahre Ansichten zu vertreten. Im Folgenden möchten wir zwei Konzepte vorstellen, die aufzeigen, warum diese Haltung problematisch ist.
False Balance1
Von dem Phänomen False Balance (Englisch für „falsche Ausgewogenheit“) wird gesprochen, wenn zu einem Thema gegensätzliche Ansichten gleichberechtigt dargestellt werden, ohne zu berücksichtigen, dass einige Ansichten faktenbasiert sind und andere pure Falschbehauptungen.
In einer Talkshow zu Klimaveränderungen werden neben Expert*innen für Klimawandel auch Klimawandelleugner*innen eingeladen, um „beide Seiten“ darzustellen. Hierbei wird ignoriert, dass die eine Person sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt hat und die andere Person rein aufgrund von Glauben und Desinformation ihre Meinung gebildet hat. Obwohl sich die überwältigende Mehrheit aller Forschenden einig sind, dass die Klimakatastrophe menschengemacht ist, werden immer wieder die wenigen Stimmen gegenübergestellt, die dies leugnen. Diese fragwürdige Medienpraxis suggeriert eine Kontroverse, die es in der Wissenschaft nicht gibt. Dadurch haben Menschen, die sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigt haben, den Eindruck, die Wissenschaft sei 50/50 geteilter Meinung.
False Balance tritt ebenso auf, wenn menschenverachtende Positionen den Anspruch erheben, gleichwertig mit inklusiven Positionen diskutiert zu werden.
Beim Familientreffen regt sich eine homofeindliche Person darüber auf, dass „diese ganzen Queers“ sich dafür entscheiden, homosexuell zu sein. Ein Bekannter hätte seinen Sohn zu ‘ner speziellen Therapie geschickt und danach „hatte er endlich ‘ne Freundin.“
Diese sogenannte „Konversionstherapie“ ist inzwischen auf Grund ihres menschenfeindlichen Bildes illegal. Deshalb ist es gefährlich, sie als mögliche Alternative zur Diskussion stellen.
Toleranzparadoxon2
Das Toleranzparadoxon wurde bereits 1945 vom Philosophen Karl Popper beschrieben.
Es bezeichnet den Umstand, dass uneingeschränkte Toleranz von intoleranten Personen/Positionen ausgenutzt werden kann. Das funktioniert so: Personen tätigen ausgrenzende und unwahre Aussagen und verlangen, dass Menschen, die tolerant sein wollen, diese Aussagen akzeptieren müssen. Sie berufen sich dabei auf Meinungsfreiheit und Demokratie und behaupten fälschlicherweise, dass Kritik an ihrer antidemokratischen, intoleranten „Meinung“ diese einschränken würde. So verdrängen sie nach und nach die toleranten Meinungen aus der Gesellschaft. Um eine tolerante Gesellschaft zu erhalten, ist es also notwendig, intolerant gegenüber bestimmten Einstellungen zu sein und diese aktiv zu bekämpfen. Das klingt im ersten Moment widersprüchlich – daher auch der Name Toleranzparadoxon.
Meinungsfreiheit bedeutet nicht „Freiheit von Konsequenzen“. Wer sich also beispielsweise antisemitisch äußert, darf dies in einem gewissen Rahmen ohne juristische Folgen tun3. Diese Person sollte sich aber nicht wundern, dafür dann auch kritisiert, weniger freundlich behandelt oder von bestimmten Veranstaltungen ausgeschlossen zu werden.
Personen, die faschistische und rechtsextreme Positionen vertreten, werden aus dem eigenen Team ausgeschlossen. Das schützt die Community und Einzelpersonen, die davon diskriminiert werden. Somit wird das Umfeld insgesamt inklusiver und toleranter.
vs.
In einem Team dürfen keine Frauen spielen.
Ich konnte lange nicht in ein Team rein weil dieses explizit keine Frauen aufnehmen wollte, weil dann ja automatisch die Typen im Team sich an die Frau ranmachen würden und es dann Drama geben würde. Das wäre schon mal passiert und es wurden statt mit den Typen zu reden einfach potentielle Mitspielerinnen abgestraft!
Umfragen-Zitat
Wieso ist das gefährlich?
Durch False Balance und falsch verstandene Toleranz besteht die Gefahr, dass Diskriminierung zur legitimen Meinungsäußerung wird und gesellschaftliche Anerkennung erfährt.
Durch die „ausgewogene“ Darstellung aller Positionen wird marginalisierten Stimmen Raum entzogen, da sie nur einen kleinen Teil der Sichtbarkeit bekommen. Auch geht es für sie oft um mehr, nämlich z.B. um die Existenzberechtigung, während es für Menschen aus der Dominanzgesellschaft nur eine Meinung ist, die sie vertreten. Wenn marginalisierte Personen zudem jedes Mal, wenn sie sich äußern dürfen, mit Gegner*innen diskutieren müssen, werden sie oft in eine Verteidigungshaltung gedrängt und müssen die immer gleichen Fragen beantworten, anstatt selbstbestimmt zu berichten, was sie bewegt. Es entsteht ein enormer Druck, sich zu rechtfertigen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.
Menschen, die einen Diskurs oder Sachverhalt verfolgen, kann False Balance vorgaukeln, mit ihrer Meinung allein zu sein, auch wenn sie sich eigentlich in der Mehrheit befinden, wodurch sie sich einsam und machtlos fühlen können.
Was bedeutet das praktisch?
Wenn Diskriminierung abgebaut werden soll, reicht es nicht, neutral zu sein oder selbst keine diskriminierenden Aussagen zu treffen, sondern wir müssen aktiv antidiskriminierende Positionen beziehen und vertreten.
Hierbei ist es unsere Aufgabe, herabwürdigenden und falschen Aussagen keinerlei Plattform zu bieten; weder im Teamgespräch, noch in der Familie oder sonstigen (WhatsApp-)Gruppen. Auf solche problematischen Aussagen hinzuweisen und diese nicht unwidersprochen stehen zu lassen, ist unerlässliche Zivilcourage.
Was bedeutet das für die Awarenessarbeit?
Ein Grundsatz in der Awarenessarbeit ist, parteiisch für die Perspektive der betroffenen Person zu sein. Eine Ausgewogenheit aller Positionen ist nicht das Ziel, d.h. es müssen auch nicht immer alle Meinungen angehört werden, um korrekt zu handeln.
Awarenesspersonen sind keine gerichtliche Instanz. Sie sammeln nicht erst alle Aussagen und entscheiden dann , was die „objektive Wahrheit“ ist, um daraus zu schlussfolgern, wer Recht und wer Unrecht hat. Sie sollen explizit und ausschließlich für den Schutz von Betroffenen einstehen.
Im Folgenden wollen wir euch ein Zitat aus der Umfrage präsentieren, in dem dieses Problem deutlich wird. Hierbei wollen wir keineswegs den*die Verfasser*in bloßstellen, sondern die Gelegenheit nutzen, die Perspektive von Awarenessarbeit aufzuzeigen.
Es kam ein von mir unangebrachter Kommentar, den ich in der nächsten Sekunde zurück genommen habe und mich entschuldigt habe. Die betroffene Person war aber leider nicht bereit, mit mir und z.B. dem Awareness-Team in Kommunikation zu gehen, was ich eben so unfair und unangebracht fand.
Umfragen-Zitat
Nach einer fragwürdigen Situation sollten beide Parteien an einem offenen Gespräch interessiert sein, um diese bestmöglich zu klären und fair auseinander zu gehen. Diesem Gespräch nicht zuzustimmen und somit eine Klärung zu verhindern, ist auch unfair.
Wichtig für die Grundsätze der Awarenessarbeit: Es ist weder Aufgabe der betroffenen Person, noch der Awareness-Personen, sich um das Wohlbefinden von Verursacher*innen zu kümmern. In diesen Momenten sollten die Wünsche und Bedürfnisse der verursachenden Personen nicht im Vordergrund stehen. Höchste Priorität sollte sein, dass die betroffene Person das bekommt, was für sie gerade am besten ist. Es ist verständlich, dass Konflikte beigelegt werden wollen. Es muss jedoch in Ordnung sein, wenn es keine Gelegenheit für eine Entschuldigung gibt – egal, ob das daran liegt, dass die Menschen sich nicht nochmal begegnen oder, dass die Entschuldigung bewusst abgelehnt wird. Das bedeutet auch, dass von der verursachenden Person natürlich eine Gelegenheit zur Entschuldigung angeboten werden kann, aber keineswegs eingefordert werden darf.
Entschuldigungen müssen nicht angenommen werden!
Das Harmoniebedürfnis von verursachenden Personen oder Umschauenden ist nicht entscheidend. Deswegen ist es wichtig darauf zu achten, dass es in der Diskussion nicht plötzlich um die Gefühle der verursachenden Person geht. Es kommt in der Awarenessarbeit vor allem auf die Wünsche und Aktionen der betroffenen Person an (solange diese nicht übergriffig wird oder andere Personen diskriminiert). Sie hat sich nicht ausgesucht diskriminiert zu werden und ist nicht verantwortlich dafür, dass die Situation entstanden ist. Folglich muss sie die Situation auch nicht lösen, um die Harmonie wiederherzustellen.
Aktuell gibt es mal wieder die Diskussion, ob Juggerteams, die sich in der Vergangenheit positiv auf den Faschismus bezogen haben, auf Turniere eingeladen werden sollten. Mit Bezug auf das Toleranzparadoxon sollte überdacht werden, ob der Schutz vulnerabler Minderheiten gewährleistet werden kann und welchen Ideologien eine Bühne geboten wird.
- https://de.wikipedia.org/wiki/Falsche_Ausgewogenheit ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/Toleranz-Paradoxon ↩︎
- Nicht alle menschenverachtenden und diskriminierenden Aussagen sind in Deutschland legal. Unter anderem ist Volksverhetzung nach §130 Strafgesetzbuch strafbar. ↩︎